Heilsame Begegnung mit dem Geist der Pflanzen
von Svenja Zuther
Pflanzen heilen nicht nur in Form von Tees, Tinkturen und Tabletten. Pflanzen heilen uns wahrhaft ganzheitlich, weil sie uns auch wieder zusammenbringen mit dem Geist der Natur. Pflanzen helfen uns, Antwort zu finden auf die großen Fragen: „Woher kommen wir?“, „Wohin gehen wir?“ und: „Was ist unsere Aufgabe hier?“ Pflanzen heilen uns durch Freundschaft und Erkenntnis.
Schamanische Praktiken können die Pflanzenheilkunde erweitern, denn sie ermöglichen uns, dem Geist der Pflanze zu begegnen, von den Pflanzen zu lernen und mit ihnen zusammen zu arbeiten. Die Pflanzen können zu Verbündeten des Menschen werden, zu Lehrern, Freunden und Heilern. Sie heilen nicht nur unseren Körper, sondern auch unsere Seele und fördern unsere spirituelle Entwicklung. Das Heilen mit Pflanzen erstreckt sich dann nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf seine Umwelt. Und diese Umwelt umfasst nicht nur sicht- und messbare, sondern auch unsichtbare Ebenen der Realität. Spirituelle Ökologie und Ganzheitliches Heilen sind im schamanischen Weltbild nicht voneinander zu trennen. Neben unserer Alltagswelt existiert eine sogenannte Anderswelt, in der die geistigen Wesen der Natur unabhängig von uns existieren, mit ihren eigenen „Ideen“ und Bedürfnissen. Zwischen diesen Welten gibt es Berührungspunkte. Mit den unsichtbaren geistigen Wesen können wir kommunizieren und interagieren. Die schamanische Sicht auf die Welt verändert unsere Einstellung zu Leben und Tod und heilt unsere Beziehung zur Natur.
Teil der Natur sein
In unserer modernen materialistisch orientierten Kultur ist für viele Menschen allein die Tatsache an sich, dass wir wirklich erleben können, wie ein Pflanzenwesen unsere Zuneigung und Aufmerksamkeit beantwortet, eine überwältigende, tröstliche und Geborgenheit spendende Erfahrung. So schrieb mir z.B. eine Teilnehmerin nach einem Pflanzenbegegnungsseminar, dass sie jetzt endlich das Gefühl habe „dazu zugehören“, was sie sich sehnlichst gewünscht hatte. Zuvor war sie bestimmt von dem Gedanken, dass sie niemals genug ausrichten könne gegen all die Dinge, die die Menschheit der Natur antut. „Jetzt fühle ich mich getröstet und gestärkt, weiß, dass die Natur uns nicht böse ist, sondern uns hilft. Das hilft auch mir!“.
Wer Pflanzen liebt, kann über die Pflanzen relativ schnell Zugang finden zu den unsichtbaren Quellen von Erkenntnis und Heilung. Pflanzen und Menschen sind seit jeher eng miteinander verbunden. Wir müssen an diese uralte Verbindung nur wieder anknüpfen, uns erinnern. Ursprünglich war die schamanische Weltanschauung auch in unserer Kultur verbreitet. Doch die Verehrung der Natur und der Umgang mit Ahnen-, Pflanzen- und Tiergeistern wurden im Zuge der Christianisierung und der Aufklärung verboten und verlacht. Diese Verbote und Verunglimpfungen stecken auch tief in uns. Hier gilt es, Begrenzungen, die uns nicht gut tun und nicht länger sinnvoll sind, fallen zu lassen und sich von Prägungen zu befreien, die einen Teil unserer Wahrnehmung als für nicht existent erklären.
Ich selbst habe mich nach meinem Studium der Biologie an der Universität entschieden, dass ich den Pflanzen nun auch auf einer anderen Ebene begegnen möchte. Ich wollte der Frage nachgehen, was mich an den Pflanzen so be-geistert und fasziniert (lat. fascinare = verzaubern). Ich wusste damals noch nicht, dass es tatsächlich um den Kontakt mit den Pflanzen-Geistern und um das Zaubern geht… Und ich war überwältigt, wie die Pflanzen meine neugierige Offenheit beantwortet haben! Vor über 15 Jahren hat sich für mich so eine völlig neue Welt eröffnet. Unglaublich viel habe ich seitdem gelernt – im Wald, im Garten, am Wegesrand und sogar auf den Verkehrsinseln meiner Heimatstadt Berlin – durch die achtsame Beobachtung der Natur und den direkten Kontakt mit den Pflanzen.
Meine persönlichen Erfahrungen haben mich dazu gebracht, Methoden zu erarbeiten, wie wir uns in einer für uns heute stimmigen Form wieder mit den Pflanzengeistern und ihren heilsamen Kräften vertraut machen und dies wieder in unsere modernen Heilmethoden einbringen können.
Pflanzengeister in schamanischen Kulturen
„Sie erkennen den Geist der Pflanzen an und sehen in ihm die stärkste Medizin. Dieser Geist vermag die Tiefen des Herzens und der Seele zu heilen.“ (Eliot Cowan)
In indigenen schamanischen Kulturen überall auf der Welt ist die Existenz von Pflanzengeistern etwas selbstverständliches. Pflanzenschamanen erhalten ihr Wissen hauptsächlich von den Pflanzengeistern selbst. Der Wald ist für sie Tempel und Universität zugleich. Nur ergänzend werden sie auch von weltlichen Lehrern unterrichtet. Die Pflanzengeister sind nicht nur weise Lehrer, sondern auch wichtige Verbündete der Schamanen. Sie helfen den Schamanen, die richtigen Heilpflanzen zu finden, erklären ihnen Anwendung und Zubereitung und lassen durch ihre Freundschaft mit den Schamanen besondere Heilkräfte wirksam werden. Für einen Pflanzenschamanen ist es also nicht der Mensch, der mit einer Heilpflanze heilt, sondern es ist der Pflanzengeist, der heilt. Der schamanisch arbeitende Heiler wirkt als Vermittler zwischen Mensch und Pflanze.
Auch bei uns in Mitteleuropa war die Pflanzenheilkunde in früheren Zeiten weit mehr als die rational überlegte Verabreichung bestimmter abgewogener Pflanzenteile. Für unsere Vorfahren standen die Pflanzen in Verbindung mit andersweltlichen Wesenheiten, waren Wohnorte der Götter und verfügten über mächtige Heilzauberkräfte. So galten Holunder und Weißdorn als Tore in die Anderswelt, Gundermann und Spitzwegerich als machtvolle Heilkobolde, Engelwurz und Johanniskraut als Apotropaion (magisches Abwehrmittel) gegen alle bösen, Unheil und Krankheit bringenden, Kräfte, die Birke als Segen spendender Baum der Liebesgöttin – um nur einige Beispiele zu nennen. Altüberlieferte Heilzauber-Rituale lassen – trotz der Überformung durch die Christianisierung – alte schamanische Heilrituale erkennen. Dazu zählen z.B. die Übertragung der Krankheiten auf Pflanzen, das Tragen von Wurzel-Amuletten, rituelle Reinigungen durch Abstreifen an Dornensträuchern oder mit Birkenbesen, das Entfernen angezauberter Krankheiten mit apotropäischen Pflanzen wie Wermut oder Engelwurz, etc.
Der Holunder
Der Holunder war für unsere Vorfahren eine sehr mächtige und heilige Pflanze, die insbesondere mit der Großen Göttin, der Erdmutter (v.a. in ihrem Aspekt als Herrscherin über die Unterwelt bzw. das Totenreich), verbunden war. Am Haus- oder Hofholunder verehrte man auch die Ahnen und konnte sie um Rat und Kraft bitten. Oft gehe ich mit meinen Seminarteilnehmern zu einem Holunderstrauch um dort die Kommunikation mit den Pflanzenwesen zu üben. Manchmal passiert es, dass Teilnehmer dort Begegnungen mit ihren verstorbenen Familienangehörigen haben. Einmal erzählte ein Mann, Mitte 60, vor der Exkursion, dass er Schwierigkeiten habe, den nun immer deutlicher werdenden Prozess des Alterns bei sich zu akzeptieren. Dieses Thema beschäftigte ihn sehr und erfüllte ihn mit Sorgen. Am Holunderstrauch bekam er auf sehr deutliche Weise Kontakt mit seiner verstorbenen Mutter, was ihn offensichtlich sehr überraschte. Er erzählte, dass er sie gefragt habe, was er denn tun solle, um mit dem Prozess des Alterns gut zurecht zu kommen. „Nichts“ hatte sie ihm geantwortet. Zutiefst berührt berichtete er, dass dadurch eine lang ersehnte Ruhe in ihn kam. Mit Tränen in den Augen, aber überglücklich war er über diese Botschaft aus der Anderswelt, die ihm der Holundergeist vermittelt hatte.
Heilen mit Pflanzen von Arznei bis Zauberei
Unter diesem Titel stand meine Art, mich mit Heilpflanzen zu beschäftigen, von Anfang an. Mit diesem Wortspiel will ich die ganze Bandbreite deutlich machen, die in der Pflanzenheilkunde möglich ist. Zauberei und schamanisches Arbeiten definieren sich im Gegensatz zu der Verabreichung von Arzneien durch Handlungen und Worte. Und dass sich beides wundervoll ergänzt, wurde schon im Papyrus Ebers, einer alten ägyptischen Handschrift, formuliert: „Wirksam ist der Zauber zusammen mit dem Heilmittel, wirksam ist das Heilmittel zusammen mit dem Zauber.“ . In früheren Zeiten war es üblich, das Heilen mit Pflanzen mit kraftvollen Worten und symbolkräftigen Ritualen zu unterstützen. Und sogar ohne die Heilpflanze in materieller Form kann ein Heiler das Zusammenkommen von Mensch und Heilpflanze vermitteln. Er macht den Patienten/Klienten mit einem Pflanzengeist bekannt, mit dem er selbst zutiefst vertraut ist bzw. bittet den Pflanzengeist, dieser Person zu helfen.
Wenn wir schamanische Methoden wieder in die Pflanzenheilkunde einbringen, können wir die Heilkräfte der Pflanzen sehr vielseitig nutzen. Pflanzen können zum heilsamen Begleiter in verschiedensten Lebenssituation werden – auch zum Lehrer und zum Coach sowie zum Helfer bei Kontakten und Auseinandersetzungen mit der Anderswelt.
Die Engelwurz
Die Engelwurz ist eine Pflanze, die die Kraft eines unterstützenden „Engels“ vermittelt. Wie kaum eine andere Pflanze öffnet sie uns für die Verbindung mit spirituellen Ebenen. Die früher auch „Angstwurz“ genannte Pflanze bietet sich auch für alle Situationen an, in denen der Kontakt zu andersweltlichen Ebenen als beunruhigend empfunden wird oder der Bedarf nach einer kraftvollen Reinigung auf allen Ebenen besteht. Hier kann sie beispielsweise von Alpträumen und Sorgen befreien. Auch wenn der Kontakt zur Anderswelt in guter Weise hergestellt werden möchte, z.B. um Hoffnung zu vermitteln, um einem Verstorbenen einen guten Übergang zu bieten oder den Trauernden den weltlichen Abschied zu erleichtern, ist die Engelwurz ein guter Begleiter.
Von den Pflanzen lernen
Wir können den schamanischen Weg mit Pflanzen wieder neu begründen und wieder starke persönliche Verbindungen mit den Pflanzen aufbauen. Begeben wir uns wieder in die Schule der Pflanzengeister! Durch die eigene Erfahrung und Erkenntnis erwächst ein tiefes inniges Verständnis für die ganzheitlichen Heilkräfte einer Pflanze. Durch die zunehmende Vertrautheit und Verbindung mit der Pflanze entfalten sich weitere Wirkungen. Eine intensive Wahrnehmung der Pflanze mit allen Sinnen kann wie eine Meditation dazu dienen, in andere Bewusstseinsebenen zu kommen und sich für die Inspiration durch den Pflanzengeist zu öffnen. Eine innere Haltung voller Achtung und Respekt, Dankbarkeit und Demut öffnet uns dabei die Türen. Wichtig ist auch die Bereitschaft, sich in voller Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit mit den eigenen Wahrnehmungen auseinander zu setzen. Da wir i.d.R. immer nur Dinge erkennen, für die wir gerade aufgeschlossen sind, spiegelt uns das, was wir an der Pflanze entdecken, immer auch etwas über uns selbst. Nur mit reinem Herzen und ohne Phantasieren können uns auf diese Weise die Kräfte der Pflanzen vertrauter werden – ebenso wie unsere eigenen.
Mit der Zeit erschließen sich uns so auch die geistigen, seelischen und spirituellen Aspekte der Heilkräfte mehr und mehr und wir erfahren die Heilungs- und Wachstumsmöglichkeiten, die sich auf der Basis dieser Verbundenheit mit allen Wesenheiten der Natur ergeben.
Lassen wir aus alten Wurzeln neue Wurzeln wachsen!
Auch wenn die schamanische Tradition in unserer Kultur zerstört wurde, können wir schamanische Erfahrungen machen und schamanische Methoden anwenden. Damit holen wir uns etwas zurück, was wir heute oft schmerzlich vermissen. Denn schamanisches Heilen bezieht sich vor allem auf seelische und spirituelle Aspekte, die in unserer modernen westlichen Welt sonst wenig Beachtung finden. Es ist daher eine sinnvolle Ergänzung zur modernen rationalen Pflanzenheilkunde und zur Schulmedizin überhaupt. Auch könnten wir die freundschaftliche Zusammenarbeit mit den Pflanzenwesen in andere Bereiche wieder einbringen: z.B. bei der Gartenarbeit, in der Landschaftsplanung, im Naturschutz, in der Forst- und Landwirtschaft. So heilen wir nicht nur uns Menschen selbst, sondern fügen uns auch wieder harmonisch ein in das große Gefüge der ganzen Natur.
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copyright: Svenja Zuther, 2017, KUDRA NaturBewusstSein, Im Dorfe 1 b, 29575 Bohndorf
Literatur:
Cowan, Eliot: Pflanzengeist-Medizin. Binkey Kok Publications, Haarlem/Holland, 2010 (S. 18)